Vorabentscheidungsersuchen zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung
OGH, 4 Ob 20/23d, Vorabentscheidungsersuchen vom 25.1.2024 – Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung.
Ein Prozess der österreichischen Zahnärztekammer gegen eine Zahnärztin in Österreich führt zu umfangreichen Fragen im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des österreichischen OGH an den EuGH:
Die Zahnärztekammer wollte mit Einstweiliger Verfügung der österreichischen Zahnärztin verbieten, an zahnärztlichen Tätigkeiten, die in Österreich durch ausländische Gesellschaften erbracht werden, welche weder eine Befugnis zur Ausübung des zahnärztlichen Berufes nach dem Zahnärztegesetz in Österreich, noch eine krankenanstaltsrechtliche Betriebsbewilligung nach österreichischem Recht haben, unmittelbar oder mittelbar mitzuwirken, beispielsweise dadurch, dass sie Abdrücke bei Zahnfehlstellungen, sei es auch auf digitale Weise durch einen Intraoralscanner, vornimmt. Diese an sich zahnärztliche Tätigkeit der Abnahme von Abdrücken von Zahnfehlstellungen diente zwei deutschen Unternehmen: Das eine hatte eine Zulassung nach deutschem Krankenanstaltenrecht, mit welchem es ein zahnmedizinisches Versorgungszentrum, Zahnklinik, betrieb, das andere Unternehmen erzeugt transparente Mundzahnschienen und bewirbt diese dahingehend, dass bei einem sogenannten Partnerzahnarzt ein Termin für die Anamnese und den Abdruck vereinbart werden könnte. Um so einen Partner handelte es sich bei der von der österreichischen Zahnärztekammer geklagten Zahnärztin.
Der OGH hat dem EuGH folgende Fragen vorgelegt:
1.1 Erstreckt sich der Anwendungsbereich des Art 3 lit d der Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (Patientenmobilitätsrichtlinie), wonach im Fall der Telemedizin die Gesundheitsversorgung als in dem Mitgliedstaat erbracht gilt, in dem der Gesundheitsdienstleister ansässig ist, nur auf Zwecke des Kostenersatzes im Sinne ihres Art 7?
1.2. Für den Fall, dass Frage 1.1. verneint wird, ordnet Art 3 lit d der Patientenmobilitätsrichtlinie, RL 2011/24/EU, ein allgemeines Herkunftslandprinzip für telemedizinische Leistungen an?
1.3. Ordnet die Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt (E-Commerce-Richtlinie) ein Herkunftslandprinzip für telemedizinische Leistungen an?
2.1. Bezieht sich die „Gesundheitsversorgung im Fall der Telemedizin“ im Sinne des Art 3 lit d der Patientenmobilitätsrichtlinie, RL 2011/24/EU, ausschließlich auf medizinische Einzelleistungen, die (grenzüberschreitend) mit Unterstützung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) durchgeführt werden, oder auf einen gesamten Behandlungsvertrag, der ebenso körperliche Untersuchungen im Wohnsitzstaat des Patienten umfassen kann?
2.2. Falls körperliche Untersuchungen umfasst sein können, müssen IKT-unterstützte Leistungen überwiegen, damit eine „Gesundheitsversorgung im Fall der Telemedizin“ vorliegt, und bejahendenfalls nach welchen Kriterien ist das Überwiegen zu beurteilen?
2.3. Ist eine medizinische Behandlung insgesamt als grenzüberschreitende Gesundheitsdienstleistung im Sinne des Art 3 lit d und e der Patientenmobilitätsrichtlinie, RL 2011/24/EU, zu sehen, wenn der aus Sicht des Patienten im anderen Mitgliedstaat ansässige Gesundheitsdienstleister, mit dem der Patient einen Behandlungsvertrag abgeschlossen hat (hier: Zahnklinik), einen Teil der Gesamtbehandlung IKT-gestützt erbringt, der andere Teil der Gesamtleistung hingegen von einem im selben Mitgliedstaat wie der Patient ansässigen Gesundheitsdienstleister (niedergelassener Zahnarzt) erbracht wird?
3.1. Ist Art 2 lit n in Verbindung mit Art 3 lit d und Art 4 lit a der Patientenmobilitätsrichtlinie, RL 2011/24/EU, und in Verbindung mit Art 5 Abs 3 der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (Berufsqualifikationsrichtlinie) dahingehend auszulegen, dass eine in Deutschland ansässige Zahnklinik in Fällen von „Gesundheitsversorgung durch Telemedizin“ in Österreich die dort geltenden nationalen berufsständischen, gesetzlichen oder verwaltungsrechtlichen Berufsregeln (insbesondere §§ 24, 26, 31 des österreichischen Zahnärztegesetzes) einzuhalten hat?
3.2. Ist Art 5 Abs 3 der Berufsqualifikationsrichtlinie, RL 2005/36/EG, dahin auszulegen, dass sich ein Gesundheitsdienstleister in einen anderen Mitgliedstaat begibt, wenn er rein IKT-unterstützte medizinische Leistungen erbringt? Verneinendenfalls, liegt ein Begeben in einen anderen Mitgliedstaat vor, wenn er durch Erfüllungsgehilfen im Wohnsitzstaat des Patienten körperliche Untersuchungen oder Behandlungen durchführen lässt?
4. Steht die Dienstleistungsfreiheit gemäß den Art 56 ff AEUV den Vorgaben des österreichischen Zahnärztegesetzes entgegen, das in den §§ 24 ff ZÄG primär eine unmittelbare und persönliche Berufsausübung vorsieht und einen freien Dienstleistungsverkehr nur im Rahmen des § 31 ZÄG „vorübergehend“ für „EWR-Staatsangehörige“, und zwar für Konstellationen wie die vorliegende, in der ein ausländischer Zahnarzt – grundsätzlich dauerhaft – im Rahmen eines einheitlichen Behandlungsvertrags Leistungen teils IKT-unterstützt aus dem Ausland (im Sinne einer grenzüberschreitenden Korrespondenzdienstleistung) und teils im Inland durch Beiziehung eines berufsberechtigten österreichischen Zahnarztes als Erfüllungsgehilfen erbringt.